Sehr häufig wurde in letzter Zeit von der „neuen Normalität“ bzw. „new normal“ gesprochen. Auf der anderen Seite erleben viele von uns genau das. 2022 war das Jahr, in dem wir begannen, die Pandemie hinter uns zu lassen und langsam wieder unser gewohntes Leben wie vor Corona aufzunehmen. Mit etwas Glück haben wir auch wieder etwas mehr Stabilität gefunden. Persönliche Treffen, Urlaube, Familienfeste ohne Angst vor einem erneuten Lockdown und der Gang ins Büro – wenn auch nur gelegentlich – sind wieder zur Routine geworden.
2022 begann für die Sprachbranche optimistisch und die vielversprechenden Zeichen der neuen Normalität des Jahres 2021 konnten sich festigen. Die Anpassung an die neuen hybriden Arbeitsweisen und die Konzentration auf das Wohlergehen der Arbeitnehmer sowie die positive wirtschaftliche Erholung aus dem Vorjahr gaben den Branchenführern viel Zuversicht. Der schnelle digitale Wandel nach dem Ausbruch von Covid-19 führte dazu, dass Sprachdienstleister (LSP) sehr gut für die Anforderungen des Homeoffice und die steigende Nachfrage nach digitalen Inhalten aller Art weltweit gerüstet waren.
Aber natürlich gab es 2022 auch unangenehme Überraschungen: Russlands Einmarsch in die Ukraine und der anschließende Konflikt haben unser aller Leben berührt, ob direkt oder indirekt. Innerhalb eines Monats nach Kriegsbeginn stellte t‘works neue Geschäfts- und Vertriebsaktivitäten in Russland ein und bot ukrainischen Flüchtlingen in Deutschland Übersetzungen zum Selbstkostenpreis an. Auch andere LSP starteten ähnliche Initiativen, und Sprachexperten halfen ebenfalls mit ihrem Fachwissen. Als Branche sind wir es gewohnt, über Grenzen hinweg mit Kollegen aus vielen verschiedenen Ländern zu arbeiten. Dadurch bekamen wir den Krieg in der Ukraine besonders stark zu spüren.
Kiew oder Kyjiw?
Der Konflikt hat uns einmal mehr gezeigt, welche Macht Sprache hat. Russisch und Ukrainisch wurden Teil des politischen Schlachtfeldes und der Wunsch nach Informationen über die ukrainische Sprache bestimmte im März dieses Jahres die Internetsuche. Es wurde viel über die Unterschiede und Ähnlichkeiten der beiden Sprachen und die kulturelle Geschichte des Ukrainischen berichtet. Auf Sprachlernseiten wurde großes Interesse an der ostslawischen Sprache bekundet, denn viele Menschen wollten ihre Solidarität mit der Bevölkerung des angegriffenen Landes zum Ausdruck bringen.
Imperialistische Vorstellungen wurden auf den Prüfstand gestellt und wir begannen zu verstehen, warum die Verwendung des bestimmten Artikels vor „Ukraine“ und die geänderte Schreibweise des Namens „Kiew“ in englischsprachigen Publikationen nicht hilfreich waren, wenn über ein Land gesprochen wird, das seine Unabhängigkeit und seine Existenz verteidigt. Als der Krieg in der Ukraine die Sprache ins Rampenlicht rückte, haben wir sehr deutlich gesehen, dass Sprache weit mehr als nur Kommunikation ist und uns im Prinzip hilft, die Welt um uns herum zu verstehen.
Das Interesse an Ukrainisch hielt das ganze Jahr über an und erreichte vor kurzem auch die Welt der Technologie. Die führende deutsche Plattform für maschinelle Übersetzungen DeepL gab bekannt, dass die Online-Plattform um die „meistgefragte Sprache des Jahres“ erweitert wurde.
Sprachtechnologie weiter auf dem Vormarsch
Sprache und Technologie sind nie weit voneinander entfernt, und auch 2022 gab es wieder bedeutende Fortschritte in der Welt der sprachbezogenen künstlichen Intelligenz (KI) und Software.
Während sich der Medienrummel um künstliche Intelligenz dreht, die Bilder aus Textbefehlen erzeugen kann, beschäftigt unsere Branche eher künstliche Intelligenz, die in der Lage ist, menschlich klingende Sprache zu erschaffen. Werden Maschinen bald so einfallsreich und klug sein, dass der nächste Shakespeare unter ihnen ist? Werden sie zukünftig den Booker Prize gewinnen? Und noch wichtiger: Werden sie menschliche Übersetzer und Texter ersetzen?
KI-Systeme, die als „große Sprachmodelle“ bezeichnet werden, dominieren weiterhin die Schlagzeilen in der Technologiewelt. Diese Plattformen, die enorme Datenmengen aus dem Internet sammeln, stehen im Mittelpunkt großer Finanzierungen und der Big-Tech-Unternehmen – insbesondere Microsoft, Meta und Google. Diese textgenerierenden Monster sind in der Lage, sehr vielen Unternehmen einen Mehrwert zu bieten, indem sie unter anderem das Marketing und die Kommunikation mit dem Kundendienst erleichtern und damit natürlich sehr attraktiv sind.
Doch während diese Maschinen menschlich klingen können, können sie nachweislich, zumindest für den Moment, nicht mit menschlicher Kreativität und dem gesunden Menschenverstand mithalten. Große Sprachmodelle neigen dazu, Fakten zu erfinden und zeigen oft eine besorgniserregende Voreingenommenheit. Das Messen ihrer Wirksamkeit ist ebenfalls schwierig und die Ergebnisse können ein falsches Bild vermitteln.
2022 hat uns gezeigt, dass diese KI-Modelle zwar immer besser in der Nachbildung menschlicher Sprache, aber nicht unbedingt vertrauenswürdiger werden.
Künstliche Intelligenz und die Frage der Übersetzung
Wir müssen verstehen, dass künstliche Intelligenz nicht selbst „denken“ kann. Obwohl sie sich menschlich ausdrücken kann, hat sie keine wirkliche Erfahrung und kann keine Entscheidungen auf Grundlage dieser Erfahrungen treffen. Sie lernt einfach nur, welche Wörter und Sätze normalerweise zusammengehören und mit welchen Themen sie verbunden sind. Sie versteht weder die menschliche Logik noch die Sprachwahl und hat trotz des Wirbels um gegenteilige Behauptungen keine „Gefühle“.
Darum haben die maschinelle Übersetzung und KI noch einen langen Weg vor sich. Obwohl damit hervorragende Ergebnisse erzielt werden können und man schwerlich nicht beeindruckt sein kann, wenn wir dadurch mit Menschen kommunizieren können, die nicht unsere Sprache sprechen, ist es doch so, dass es in vielen Fällen noch zu Fehlern kommt.
Wenn überhaupt (wie die Experten von CSA Research in diesem Artikel argumentieren), werden menschliche Sprachexperten nur noch wertvoller im Sprach-Workflow, da ihre Rolle als „Human-in-the-Loop“ immer wichtiger wird. Verbesserte Technologien in Form von Terminologiemanagement und Translation Memorys sowie die selektive Verwendung maschineller Übersetzung können von Linguisten und Projektmanagern zur Steigerung der Produktivität eingesetzt werden und damit zu Mehrwerten für die Kunden führen. Das menschliche Know-how muss jedoch die Grundlage bleiben, auf der diese Technologien aufbauen.
Natürlich erfordern die schnellen technologischen Veränderungen unserer Zeit auch eine Anpassung der Arbeitsumgebungen, und die Sprachindustrie steht vor Herausforderungen bei der effektiven Umsetzung. Aber für eine Branche, die im Laufe ihrer Geschichte immer wieder von Umbrüchen und Innovationen gekennzeichnet war, ist die Fähigkeit zur Transformation ganz normal.
Besserer digitaler Zugang zu indigenen Sprachen
2022 begann die Internationale Dekade der indigenen Sprachen und die Initiative der UNESCO, bedrohte indigene Sprachen zu schützen und das unschätzbare Wissen und die Kultur dieser Sprachen zu bewahren, wird damit fortgesetzt. Man erkennt immer mehr, dass diese Sprachen wichtige Informationen für die ökologische Nachhaltigkeit enthalten – sterben sie aus, gehen alte Traditionen der Bewahrung und des Zusammenlebens mit der Natur verloren.
Auch hier spielt Technologie eine wichtige Rolle. Fortschritte bei KI und maschinellem Lernen werden nun genutzt, um unterrepräsentierte Sprachen in die digitale Welt zu bringen und Verbindungen zwischen ihnen und der globalen Gemeinschaft zu ermöglichen.
Eines der bekanntesten Beispiele ist die Wiederbelebung der indigenen Sprache Te Rao Māori, die von den Māori in Neuseeland gesprochen wird. Sie war bereits vom Aussterben bedroht, doch in den letzten 30 Jahren wurde mit viel Elan ein Spracharchiv angelegt, und eine Open-Source-App kann jetzt genutzt werden, um gesprochene Sprache aufzunehmen. In einem viel beachteten Schritt wurde dieses Jahr die Souveränität über die gesammelten Daten vor großen Technologieunternehmen geschützt, um das Schicksal der Sprache auch weiterhin in die Hände zukünftiger Māori-Generationen zu legen.
Wie bei Te Rao Māori nutzen Aktivisten für indigene Sprachen auf der ganzen Welt digitale Tools, um ihre Sprachen wieder mit Leben zu füllen. Von Augmented Reality auf Vancouver Island in Kanada, mit der in die Sprache Kwak’wala eingetaucht werden kann, bis hin zu Bildungstechnologien in Nigeria, um Yòrúba in digitale Räume zu bringen, gewinnen Projekte weltweit schnell an Dynamik.
Vorteile maschineller Übersetzung
Natürlich ist es einfach, Fehler bei den bekannten Online-Übersetzungsplattformen zu finden, aber es gibt immer mehr Vorteile für unterrepräsentierte Sprachen, da sie durch technologische Fortschritte in die bekannten Engines aufgenommen werden können.
Im Mai dieses Jahres hat Google angekündigt, 24 neue Sprachen zu Google Übersetzer hinzuzufügen. Dazu gehören 10 afrikanische Sprachen – von denen Lingala von etwa 45 Millionen Menschen in Zentralafrika gesprochen wird – und zum ersten Mal drei indigene Sprachen Südamerikas – Quechua, Guarani und Aymara.
Meta kümmert sich mit dem Projekt „No Language Left Behind“ darum, dass mehr Sprachen in den digitalen Raum aufgenommen werden. 2022 wurden 55 afrikanische Sprachen hinzugefügt, von denen viele nicht über große Korpora verfügen. Des Weiteren wurde die Desktop-Version von Facebook in Inuktitut bereitgestellt, eine der meistgesprochenen Inuit-Sprachen.
Wer spielt noch Wordle?
Zu Beginn des Jahres dominierte ein Spiel namens Wordle das Internet. Danach schossen tausende verschiedene Sprachversionen wie Pilze aus dem Boden. Das scheint schon lange her zu sein, nicht wahr? Viele von uns haben sich jedoch geweigert, das liebgewonnene Sprachrätsel aufzugeben, und haben sich auch nicht von den Behauptungen abschrecken lassen, es wäre nach dem Verkauf an die New York Times schwieriger geworden.
Wordle hat sogar die Wahl zum „Wort des Jahres“ des Cambridge Dictionary beeinflusst. Das aus fünf Buchstaben bestehende Wort „Homer“ – im amerikanischen Englisch umgangssprachlich für einen Homerun im Baseball – löste im Mai eine hitzige, mit Wordle verbundene Debatte aus, da viele Menschen auf der britischen Seite des Atlantiks nicht auf diese Wordle-Lösung kamen. Und natürlich kam es zu fieberhaften Online-Suchaktivitäten, insbesondere am 5. des Monats, dem Tag, an dem das Wort bei Wordle erschien.
Andere kürzlich verkündete Wörter des Jahres waren deutlich anders, spiegeln jedoch die Orientierungslosigkeit unserer Gegenwart wider. Das Oxford Dictionary führte eine Online-Umfrage durch, bei der „goblin mode“ (sich hemmungslos gehen lassen) zum wichtigsten Ausdruck des Jahres 2022 gewählt wurde. Collins entschied sich für „permacrisis“ (Dauerkrise) und Merriam Webster für „gaslighting“ (psychische Manipulation).
Sprache ist wichtig
Es ist sicherlich aufschlussreich, dass wir das vergangene Jahr in Wörtern Revue passieren lassen. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, wie wir Sprache nutzen, um zu verstehen, was in der Welt vor sich geht und wie wir uns dabei fühlen. Sprache ist das Herzstück unserer Existenz, und als unsere vielleicht größte Erfindung ist sie ein wesentliches Element unseres Daseins. 2022 hat uns mehr denn je gezeigt, dass Sprache wichtig ist.